EURASISCHE BILDWELTEN
Dr. Matthias Liebel, Kunsthistoriker, 2019
Als Herbert SAX Baerlocher, 1943 in Luzern geboren und in Basel aufgewachsen, 1973 nach Japan zog, hatte er, gewissermaßen als kulturelles Erbe aus seinen Jugendtagen in der Kunsthandlung seiner Großmutter sowie aus seinem Studium der Kunstgeschichte und der Literatur an den Universitäten in Bern und Florenz, die klassische Moderne im Gepäck: Wassily Kandinsky natürlich, Robert Delaunay und Hans Arp, die Anfänge der Moderne und die frühen Erscheinungsformen der Abstraktion. Und er kannte die damit verbundenen Philosophien, die – bei aller geistiger Tiefe – doch so viel anders waren als die des Fernen Ostens. Nun galt es, als sich SAX in die Schule des Zen-Buddhismus begab, dieses Wissen über Bord zu werfen und noch einmal ganz von vorne zu beginnen – nicht um die eigenen Wurzeln zu negieren, sondern um sich zu öffnen für eine andere Art des Denkens und um zu reifen an neuen Erfahrungen, an neuen Sichtweisen, an neuen Lebensformen.
Bildkünstlerisch tätig war SAX bereits seit seiner Zeit in Berlin. Dort hatte er sich, nach einigen Auftritten mit diversen Theater- und Musikgruppen, 1971 niedergelassen und damit begonnen, Zeichnungen anzufertigen, mit denen er, anfangs gegenständlich gebunden, bald indes ins Abstrakte überspielend, einen inneren Zugang zu sich selbst suchte. Dabei entdeckte SAX für sich die Philosophie des Fernen Ostens. Sein Interesse an diesen Weisheitslehren ging so weit, dass er beschloss, nach Kyoto zu ziehen, um vor Ort diese Lehren zu studieren.
Ganze 27 Jahre sollte SAX in Japan bleiben. Während dieser Zeit ging er bei Hiromoto Susumu Sensei (1897-1991) in die Schule, der ihn in die Arbeitsmethoden und gestalterischen Techniken der zen-buddhistischen Tuschmalerei einführte.
Charakteristisch für die japanische Tuschmalerei und für die Malerei des Zen sind u.a. die motivische wie gestalterische Einfachheit des bildnerischen Ganzen, impulsive pinselrhythmische Spontaneität, kompositions-ästhetische Asymmetrie und das gezielte Stehenlassen unbehandelt gebliebener Leerflächen. Das Weiß des Papieres trägt entscheidend zur Konzentration auf das Dargestellte bei, das in schlichtem Schwarzweiß oft auf einfachste Formen zurückgeführt wird.
Anders als die Abstraktion des Westens, die durch rationale, logisch durchdachte Vereinfachung nach neuen Erscheinungsformen des Gestalterischen sucht, versteht sich die Zen-Malerei als meditative Übung und als das sichtbare Produkt der Selbstbescheidung und der Kontemplation. Dabei zieht sich der Tuschmaler vorzugsweise in einen abgeschiedenen Raum zurück, in greifbarer Nähe nichts anderes als ein paar Bambuspinsel, schwarze Tusche und weiße Blätter Papier. In meditativer Versunkenheit beginnt er, sich ganz auf sich selbst und auf das Sujet seines Bildes zu konzentrieren. Er macht sich frei von allen weltlichen Diesseitsbezügen und innerlich „leer“, um zu seinen tiefsten, dem rationalen Zugriff entzogenen Seins-Ebenen vorzudringen. Ein Zen-Maler schafft seine Werke statt nach der sichtbaren Wirklichkeit ganz aus sich selbst heraus: aus seinen inneren energetischen Strömen, die er meditativ in sich ergründet. Voraussetzung für die Hervorbringung eines Zen-Bildes ist der Einklang von Körper, Geist und Seele. Erst am Ende dieser auf Selbstbescheidung, Selbstreflexion und Selbstwahrnehmung ausgerichteten Übung greift der Maler schließlich zum Pinsel und bringt, jetzt allerdings binnen kürzester Zeit, mit festen und bestimmten Zügen zu Papier, was er zuvor im Zustand der Kontemplation motivisch, gestalterisch und bewegungsrhythmisch antizipiert hat. In diesem Sinne erweist sich die Zen-Malerei als visualisierte Transformation der Tiefenschichten des Ich.
So in etwa geht auch Herbert SAX Baerlocher vor, wenn er seine schwarzweißen Tuschbilder schafft. Die meist auf Papier ausgeführten Arbeiten entstehen im Zustand innerer Harmonie und weisen ganz ähnliche Stilmerkmale auf, wie sie der abstrakten japanischen Tuschmalerei zu eigen sind: von gegenständlichen Bedeutungszusammenhängenn befreite einfache Formen, zügig auf die Bildfläche gebracht, bei asymmetrischer Komposition mit viel Weiß des Papieres, dessen frei gebliebene Leerflächen den Blick des Betrachters auf die rhythmisch ausgeführten Pinselbewegungen konzentrieren. Die Tuschbilder von SAX sind keine Abbilder nach Motiven aus der sichtbaren Wirklichkeit, sondern die gestalterische Transformation der energetischen Zustände des Künstlers.
Sie stellen nichts anderes dar als das, was sie sind: mit schwarzer oder grau gelichteter Tusche auf weißen Grund gebrachte Bewegungen, die im Moment ihres Entstehens als seismographische Entladung der inneren Befindlichkeiten des Künstlers ein gestalterisches Eigenleben entfalten. Die Dichotomie von Yin und Yang spielt dabei eine Rolle, der Ausgleich der Gegensätze von Schwarz und Weiß, von fließend und statisch, von flüssig und trocken usw. – das alles besonnen und uneitel kompositionsästhetisch in Einklang gebracht und so, dass am Ende ein in sich stimmiges harmonisches Ganzes entsteht.
Das ist es, was Herbert SAX Baerlocher bei seinen Lehrmeistern in Japan gelernt hat: Sich innerlich von den Niederungen des realweltlichen Alltags zu befreien, loszulassen, einzutauchen in die verborgenen Tiefenschichten des Ich, um in diesem mental geläuterten Zustand zu seinem eigenen Wesenskern und zum Wesenskern der Dinge um uns herum zu finden: der Menschen, die uns umgeben,
der Lebewesen, denen wir begegnen, der Gegenstände, mit denen wir zu tun haben, und der Umstände, die unser Leben begleiten.
Gegen Ende der 70er Jahre fand SAX, eingedenk seiner kulturellen Wurzeln und der europäischen Frühformen der Abstraktion, eingedenk der Schriften Kandinskys und anderer Theoretiker über das Geistige in der Kunst, beeinflusst zugleich von der japanischen Tuschmalerei, noch während seines Aufenthaltes in Japan zur Malerei in Öl auf Leinwand. Dabei stehen die teils mit dem Pinsel, teils mit dem Spachtel in kräftigen Farben ausgeführten Gemälde trotz ihrer oft geometrisch strukturierten Kompositionen nur scheinbar im Gegensatz zu seinen weich fließenden, schwarzweißen Tuschbildern. Bei genauerem Hinsehen begegnen wir auch hier einigen charakteristischen Erscheinungsmerkmalen der Zen-Malerei: der Vermeidung symmetrischer Bildaufbauten, einer zügig, doch stringent erfolgten Pinselführung und der Beschränkung auf einfache Formen, die jetzt allerdings in strahlenden Farben mit kraftvollen Kontrasten auf die Leinwand gebracht werden. Dabei nehmen die durchweg abstrakten Formationen mit ihren Kreisen, Dreiecken und Quadraten, mit ihren manchmal als breit gelagerte Rechtecke wiedergegebenen, manchmal kurvig geschwungenen Farbfeldern bisweilen anthropomorphe Strukturen an: Es gibt ein energetisches Zentrum, das wir als eine Art Kopf wahrnehmen, darunter einen Rumpf mit Armen und Beinen, manchmal mit flügelartigen Schwingen. Ohne während des Malens tatsächlich an menschliche Körper zu denken, ergeben sich für SAX solche figürlichen Assoziationen beinahe von selbst. Dabei entfalten die einzelnen Bildelemente ein dialogisches Miteinander und fügen sich am Ende des Malprozesses zu einer ausgewogenen, formfarblich in sich stimmigen Gesamtheit zusammen.
Interessant ist das arbeitsmethodische Vorgehen des Künstlers, denn SAX bereitet seine Bilder grundsätzlich nicht vor: Es gibt keine Vorzeichnungen oder Konzeptentwürfe, auch arbeitet er nicht in Serien, bei denen sich ein Gemälde als systematische Weiterentwicklung aus einem anderen ergibt, sondern SAX schafft seine Bilder wie ein Zen-Maler intuitiv und geleitet von den Stimmungen des Augenblicks.
Er tut dies nach Möglichkeit in einem Arbeitsgang, ohne zeitliche Unterbrechung. In diesem Sinne handelt es sich bei den Ölgemälden des Künstlers um eine Malerei „alla prima“ par excellence. Es ist eine reine, offene und unverbrauchte Ausdruckssprache, die SAX sucht, im Zustand kontemplativer Entspanntheit als solitäre Einzelstücke aus den innersten Tiefenschichten des Ich ans Licht gebracht, ohne akademischen Schnickschnack und ohne oberflächliche Show-Effekte.
Was am Ende entsteht ist eine zwar geometrisch gegliederte, doch niemals mit Lineal und Zirkel konstruierte, eine zwar flächig gemalte, doch die Farben niemals wirklich monochrom, sondern in zahlreichen Schattierungen, Modulationen und halbtransparent einander überlagernden Schichten auf die Leinwand gebrachte Ausdrucksmalerei, die vom Impetus des Spontanen, des Energetischen und des Lebendigen getragen wird. Das macht die Arbeiten von Herbert SAX Baerlocher so authentisch, das macht sie so originell, so unverwechselbar und für den Betrachter so interessant.
Ende der 90er Jahre kam SAX aus Japan zurück. Er ließ sich im schweizerischen Fextal nieder, bei Sils-Maria im Engadin, ab 2013 dann in Weimar und seit 2015 in Obernsees (bei Bayreuth), und setzte an all diesen Orten fort, was er in Japan begonnen hatte: eine vom Geist der zen-buddhistischen Tuschmalerei inspirierte, zugleich von der Abstraktion der westlichen Welt getragene Ausdrucksmalerei, die auf den schwarzweißen Pinselzeichnungen des Künstlers ebenso wie auf seinen großformatigen Gemälden in Öl auf Leinwand ihre konsequente stilsprachliche Weiterentwicklung erfährt.
Asiatische und europäische Erscheinungsformen finden in den Werken von Herbert SAX Baerlocher synergetisch zusammen und entfalten dort eine ganz eigene Bildsprache. Wenn es so etwas wie einen „eurasischen Kanon“ gibt, dann findet er sich auf den Tuschmalereien und den Ölgemälden von Herbert SAX Baerlocher charakteristisch wieder.
Dr. Matthias Liebel, Kunsthistoriker, Bamberg 2019